GESCHICHTE
1933 erteilte die Zürcher Dampfbootgesellschaft der Maschinenfabrik Escher Wyss den Auftrag, ein Motorschiff für 200 Personen zu bauen – das erste ihrer Schiffe, das von Anfang an einen Motor hatte und keine umgerüstete «Dampfschwalbe» war. Mit dem neuen Schiff wollte man die Querverbindungen im oberen Seeteil verbessern. Und man wollte etwas vorzeigen können an der grossen Landesausstellung, die für 1939 geplant war.
Ob damals schon klar war, dass das Schiff eine Weltpremiere werden würde? Das MS Etzel war das erste Schiff weltweit mit einem hydraulischen Verstellpropeller. Um langsam, vorwärts oder rückwärts zu fahren, werden nicht Tourenzahl und Drehrichtung der Maschine geändert, sondern der Kapitän winkelt über einen Hebel im Steuerhaus die Propellerflügel entsprechend an. Der Antrieb wird also zum Manövrieren genutzt.
Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Industrie
Escher Wyss arbeitete für den Bau des neuen Schiffs mit Professor Jakob Ackeret und seinem Institut für Aerodynamik der ETH Zürich zusammen. Ackeret hatte Mitte der 1920er Jahre in Deutschland das Kaiser-Wilhelm-Institut für Strömungsforschung aufgebaut, war 1927 Chefhydrauliker bei Escher Wyss geworden und wurde 1931 zum ausserordentlichen Professor an die ETH berufen. In enger Zusammenarbeit mit der Industrie entwickelte er hier 1933 den ersten in geschlossenem Kreislauf arbeitenden Überschallwindkanal der Welt. Damit konnte man Strömungsvermessungen an Turbinen und Propellern durchführen und optimierte Tragflügel-, Rotor- und Schiffspropellerprofile herstellen.
Was Ackeret und Escher Wyss im Turbinenbau für Wasserkraftwerke bereits erfolgreich angewandt hatten, übertrugen sie nun auf den Schiffbau. Das MS Etzel erhielt den weltweit ersten Kaplan-Wendepropeller. Pläne für Schiffsschrauben, bei denen die Propellerflügel demontiert, weggeklappt oder verstellt werden können, hatte es zwar bereits im 19. Jahrhundert gegeben. Die Leistung dieser Antriebe war aber immer schlecht und ihr Anwendung blieb auf kleine Boote beschränkt.
Der Antrieb des MS Etzel unterschied sich ganz grundsätzlich von herkömmlichen Schiffsantrieben. Sobald die Maschine gestartet wird, dreht beim MS Etzel auch die Schiffsschraube, allerdings zunächst «leer», also auf Nullschub. Über ein Gestänge, das vom Steuerhaus durch die Schotträume ins Heck und dort – übersetzt über eine Hydraulik – direkt mit dem Propeller verbunden ist, können die Propellerflügel so angewinkelt werden, dass man stufenlos von Voraus auf Zurück umstellen kann. Es gibt also kein Wendegetriebe. Damit ist eine erhebliche Zeitersparnis verbunden: Der Bremsweg wird verkürzt. Die Maschine kann auf einer bestimmten Tourenzahl laufen gelassen werden und wird geschont. Das System ist auch vorteilhaft für den Betrieb mit unterschiedlicher Last, also für Schiffe, die einmal leer, dann wieder beladen fahren.
Am 1. März 1934 wurde das neue Schiff von den Escher-Wyss-Werkhallen zum Hafen Enge transportiert und vom Stapel gelassen. Es erhielt den Namen «Etzel», wurde in die Werft nach Wollishofen geschleppt und dort fertiggestellt. Die Probefahrten fielen zur grossen Zufriedenheit aus. Der Antrieb funktionierte einwandfrei. Am 8. Juni 1934 nahm das MS Etzel den Passagierbetrieb auf. Anfängliche Bedenken, die Schiffsführer könnten mit der neuartigen Technik überfordert sein, erwiesen sich als unnötig. «Die Steuerleute eignen sich in kurzer Zeit die Fähigkeit an, mit dem Boote mit Wendepropeller zu fahren», schrieb Ackeret in seinem Schlussbericht. Während der Schweizerischen Landesausstellung 1939 pendelte das MS Etzel zwischen den beiden Ausstellungsteilen und war ein Publikumsmagnet.
Ein Schiff macht Schule
Mit dem MS Etzel begann eine neue Ära der Schifffahrt auf dem Zürichsee. Bis in die 1970er Jahre wurden sämtliche Schiffsneubauten mit einem Verstellpropeller ausgerüstet. Die Schiffe Linth, Glärnisch, Säntis, Limmat, Bachtel, Helvetia und Wädenswil erhielten Anlagen von Escher Wyss. Die kleine MS Stäfa wurde 1944 von der Firma Sulzer kostenlos mit dem – ersten und einzigen – Verstellpropeller von Sulzer bestückt. Durch die guten Manöver- und Bremseigenschaften konnten mit diesen Schiffen viele Stationen bedient werden, ohne dass die Fahrt nach Rapperswil unendlich lang wurde.
In den 1950er Jahren wurde auf dem MS Etzel eine kleine Küche eingebaut und die Kabinen wurden abgeändert. Am Bug entstand ein kleines Freideck und der Salon wurde vergrössert. Im Winter 1966/67 erhielt das MS Etzel mittschiffs eine Winterverschalung und eine Radaranlage und war darauf auch im Winter im Einsatz. Es bediente die Stationen im unteren Seebecken und bewältigte den Pendelverkehr zwischen Erlenbach und Thalwil. 1972 bekam das MS Etzel eine neue Maschine.
Als gegen Ende des 20. Jahrhunderts die langsam laufenden, drehmomentstarken Schiffsdieselmotoren durch moderne Schnellläufermotoren ersetzt wurden, passten die Verstellpropeller allerdings nicht mehr zu den Aggregaten. Effizientes Manövrieren konnte nun durch die Maschine gewährleistet werden. Nun fiel der grosse Nachteil der Verstellpropeller ins Gewicht: Die komplizierte mechanische Bauweise ist mit einem grossen Wartungsaufwand verbunden, und wenn am Propeller ein Schaden entsteht, ist der finanzielle und technische Reparaturaufwand enorm. Die ab 1997 angeschaffte Albis-Klasse hatte zwar nochmals Verstellpropeller – Fabrikat Schottel –, die mit moderner Maschinensteuerung bedient werden. Die Schiffe mit älteren Verstellpropellern wurden nun aber sukzessive auf Festpropeller umgerüstet. Der Verstellpropeller, diese einstige Weltinnovation, war auf dem Zürichsee dem Untergang geweiht.
Auch vom Platz und vom Ausbaustandard her entsprachen die Schiffe aus der Zwischen- und Nachkriegszeit nicht mehr den Bedürfnissen. Ende der 1990er Jahre drohte dem MS Etzel das gleiche Schicksal wie bereits den Landischiffen «Halbinsel Au», «Möve» und «Speer», die die Zürichsee Schifffahrtsgesellschaft bereits ins Ausland verkauft hatte. Um die letzte «Schwalbe» und einen wichtigen Zeugen der Zürcher Industriegeschichte auf dem Zürichsee zu erhalten, gründete Stefano Butti, Schiffsführer bei der ZSG, im Juni 1999 den Verein Pro MS Etzel. Um die Finanzierung zu sichern, kam im Januar 2001 die Genossenschaft MS Etzel als Kapitalgesellschaft dazu und im gleichen Jahr konnte das Schiff zu einem symbolischen Preis von der ZSG übernommen werden.
Eine neue Ära
Um das MS Etzel extrafahrtentauglich zu machen, wurde in der Schiffbauhalle in Wollishofen während zwei Monaten eine umfassende Revision durchgeführt. Das Schiff erhielt eine Trinkwasseranlage und eine moderne Küche mit Bar. Anschliessend stellte die Genossenschaft einen Geschäftsführer ein und nahm den Betrieb auf.
Das MS Etzel ist seither zu einem beliebten Charter- und Publikumsschiff
geworden. Der Erlös aus den Charterfahrten deckt den Betriebsaufwand und den laufenden Unterhalt. Er erlaubt auch gewisse Rückstellungen für Investitionen in Bausubstanz, Technik und Infrastruktur.
Sämtliche Originalteile werden sorgfältig gepflegt.
Zwischen 2005 und 2010 wurden neue Abwassertanks, ein neuer Generator und ein Tageslichtradar mit Wendegeschwindigkeitsanzeige eingebaut. 2016 hat die Genossenschaft MS Etzel mit einer Statutenrevision den den Erhalt der historischen technischen Anlagen sowie – durch Äufnung eines Reparaturfonds – ein nachhaltiges Finanzierungsmodell in ihren Statuten verankert. Von Juni 2018 bis März 2019 war das Schiff für eine Generalrevision an Land. Der Kabinenaufbau sowie der Bug- und Heckbereich der Schiffsschale wurden neu erstellt, das Mobiliar wurde aufgefrischt und die Innenverkleidung originalgetreu wiederhergestellt. Diese Arbeiten im Umfang von einer Million Franken konnten nur zu 40 Prozent aus Rückstellungen finanziert werden. Den Hauptteil haben private Spender, Firmen, Stiftungen und die öffentliche Hand beigetragen.
Die schlanke Form des MS Etzel, das geschwungene Heck und die sachliche Struktur der Aufbauten zeugen von einer vergangenen Schiffbaukultur. Der Vorstand, die Geschäftsleitung und die Crew setzen sich mit viel Enthusiasmus dafür ein, das MS Etzel auch in Zukunft auf dem Zürichsee zu erhalten.